Ein aktueller Fall sorgt für Aufsehen im Social Web: Erst der Film eines jungen Tierquälers, dann der ganz offensichtliche Aufruf zur Selbstjustiz, der zwar strafbar ist, aber dennoch (und wenig überraschend) viele Anhänger findet. Birgt das, was für die meisten ein klarer Fall von Gerechtigkeit ist, nicht Risiken von weitreichendem Ausmaß?
von Charlotte
Aktuell kursiert ein Fall im Internet, der in mir sehr zwiegespaltene Emotionen hervorruft: Ein junger Mann filmte sich offenbar selbst dabei, wie er seinen Hund quält (ich gebe zu, dass ich mir das Video erspart habe). Kurze Zeit später tauchte im Post eines wütenden Facebook Users und offenbar sehr beliebten Youtube-Nutzers die angebliche Adresse des besagten 642-902
Tierquälers auf mit dem Aufruf, wer Lust habe, solle eben diesem doch mal einen Besuch abstatten, sobald er nicht mehr in U-Haft sei.
Das sogenannte Social Web, über das wir auch schon mehrfach geschrieben haben, erhält derzeit immer eher auch einen Beigeschmack, der über die Definition rein sozialen Verhaltens hinweggeht. Sicher: Es bietet Menschen eine Plattform, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, Gutes bewirken, Großes bewegen und Massen mobilisieren wollen. Es wird aber auch zu einer Plattform, die losgelöst von juristischen Grundlagen ein eigenes Werte-, Moral- und offenbar Justiz-System entwickelt. Es verfrachtet uns geradewegs in eine Welt, in der wir vor nichts mehr sicher nicht, in der unsere Daten zu Zwecken benutzt werden, die sich unserem Einfluss entziehen. 1Y0-A20 Selbstjustiz, wie sie im obigen Beispiel der Fall ist, mag auf den ersten Blick gerecht wirken, aber sie birgt Risiken: Was wäre, wenn ich ungewollt Zeugin eines brutalen Angriffs mehrerer Jugendlicher auf einen unschuldigen Menschen würde? Was wäre, wenn jemand es filmen würde und ich im Hintergrund zu sehen wäre? Was wäre, wenn ich in den Augen der Öffentlichkeit, die das Video später im Social Web teilen und verurteilen würde, einen Moment zu lange gezögert hätte, bis ich all meinen Mut zusammengenommen und dem Opfer mit allem in meiner Macht stehenden zu Hilfe geeilt wäre? Wäre es dann meine Adresse, die anschließend im Netz stünde? Weil ich zu lange gebraucht habe, um den Moment der eigenen Furcht zu überwinden? Wer es nicht selbst erlebt, hat leicht reden, oder?
Ich sage damit nicht, dass es falsch ist, Menschen, die ganz offensichtlich Unrechtes tun, anzuprangern. Nur frage ich mich eines: Mit was hat der junge Tierquäler gerechnet, als er das Video überhaupt drehte? Und wie viele Tierquäler gibt es wohl, die Ihre Taten nicht erst filmen? Einer der Kommentare unter dem (im Übrigen strafbaren) Aufruf zur Selbstjustiz wies zudem einmal ganz kritisch darauf hin, dass unser Fleischkonsum letztlich nichts Besseres provoziere. Nur würde darauf nicht so oft die Kamera gehalten. Ist es wirklich schlau und erwachsen, Gleiches mit Gleichem abzugelten? Und wo ist eigentlich das Vertrauen in unsere Justiz geblieben? Zugegeben: Immer wieder gibt es Aufschreie und die Frage, weshalb Kinderschänder eine mildere Strafe bekommen als Internetbetrüger. Aber ist es nicht dennoch gefährlich, dem eigenen System in den Rücken zu fallen, den Glauben daran zu verlieren? Was ist, wenn uns genau aus diesem Grund einmal selbst Unrecht geschieht? Nur wo die Grenze ziehen, wenn selbst die Polizei das soziale Medium zu Fahndungszwecken nutzt?
Inzwischen werden in den zahllosen Facebook-Kommentaren auch die Eltern des jungen Mannes angegriffen. Sie hätten in der Erziehung versagt und trügen Mitschuld an den grausamen Machenschaften ihres Sohnes. Wer sind wir, über Fremde zu urteilen? Wissen wir, welches Verhältnis er zu seinen Eltern hat? Könnte er nicht längst keinen Kontakt mehr zu Ihnen haben? Und wie viele schizophren geartete Persönlichkeiten wandeln unter uns, denen man ihre erschreckenden Gräueltaten zuvor niemals zugetraut hätte? Freie Meinungsäußerung ja, Selbstjustiz nein. Wer weiß schon, ob es nicht als nächstes ihn selbst treffen könnte? Wir vergessen zu oft, welche Spuren wir im Netz hinterlassen. Auch all jene, die durch ihre Kommentare zu Mittätern werden und ein (vielleicht überarbeitungswürdiges?) Gefüge aus den Angeln heben.